Solidarität, aber auch wirtschaftliche Eigeninteressen
In Liechtenstein war man nach dem Abschluss des Zollvertrags von der Richtigkeit und Wichtigkeit des Vertrags überzeugt. Die wirtschaftliche Isolation hatte ein Ende gefunden, die Anbindung an die Schweiz wurde als Vorteil gesehen. Dazu trug auch die Einbindung in den Frankenraum bei, der stabile Schweizer Franken galt als Standortvorteil − mit dem Zollvertragsanschluss an die Schweiz nun auch für Liechtenstein.
Die aus dem Vertrag mit der Schweiz fixierte Zollpauschale trug wesentlich zum liechtensteinischen Staatshaushalt der Zwischenkriegszeit bei. Ihr Anteil an den staatlichen Gesamteinnahmen war teils beträchtlich. 1924 bis 1940 stammte durchschnittlich rund ein Viertel der Staatseinnahmen aus der Zollpauschale. In einzelnen Jahren, beispielsweise in den Jahren 1926 oder 1934, betrug die Zollpauschale rund ein Drittel des liechtensteinischen Staatshaushalts. Bereits 1926 erreichte die liechtensteinische Regierung eine Erhöhung der Zollpauschale von anfänglich 150'000 auf 250'000 Franken. Und nochmals zehn Jahre später wurde die Pauschale mit einem Betrag von 450'000 Franken fast verdoppelt. Diese fix planbaren Einnahmen gaben der Liechtensteiner Regierung eine gewisse Sicherheit in den wirtschaftlich krisenhaften 1930er-Jahren.
Im September 1927 brach der Rheindamm in Schaan direkt oberhalb der Eisenbahnbrücke und überflutete die ganze Talebene von Schaan bis nach Tosters und Bangs in Vorarlberg. Zwei Menschen ertranken, Häuser, Strassen und Ernten fielen den Wassermassen zum Opfer. Der Aufwand zur Wiederherstellung und Verbesserung des beschädigten Dammes, der Rheinbrücken und Strassen und Flure war enorm, nicht nur in Form von menschlicher Arbeitskraft, sondern auch finanziell.
Die Solidarität der umliegenden Länder war gross. Rund die Hälfte der freiwilligen Helfer stammte aus der Schweiz, die Schweizer Pfadfinder leisteten wochenlange Einsätze. Und auch finanziell half die Schweiz aus, indem sie einen Vorschuss von eineinhalb Millionen Franken auf die Einnahmen aus der Zollpauschale gewährte.
Nur ein Jahr später war Liechtenstein wieder auf die Solidarität der Schweiz angewiesen. Liechtenstein taumelte durch die Aufdeckung des Sparkassaskandals im Sommer 1928 erneut. Das Land Liechtenstein bürgte für die Bank mit einer Staatsgarantie, die verlustreichen Spekulationsgeschäfte belasteten den Staat schwer. Ein Teil der Staatsausgaben zur Sanierung der Sparkasse konnte mittels einer Schenkung des Fürstenhauses gedeckt werden. Ein zusätzliches Darlehen von zwei Millionen Franken stammte aus der Schweiz, wiederum als Vorschuss auf die Zollpauschale verstanden.
Die Schweiz handelte solidarisch, rasch und unkompliziert und half dem kleinen Zollvertragspartner aus. Nichtsdestotrotz machten sich in den Beziehungen auch Kontrollbestrebungen der Schweiz sowie die Verfolgung von eigenen Interessen bemerkbar.
Die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre führte auch in Liechtenstein zu einer prekären Arbeitslage. Die Schweiz war zuvor eine bei liechtensteinischen Saisonarbeitern beliebte Destination gewesen, nun wurden sie vom schweizerischen Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen. Trotz den Bemühungen der liechtensteinischen Regierung um eine generelle Öffnung des schweizerischen Arbeitsmarktes für Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner oder wenigstens um eine Bevorzugung der liechtensteinischen Arbeitnehmenden lenkte Bern diesbezüglich nicht ein. Die Schweiz hatte selbst Arbeitssuchende zu versorgen. In der Meinung, durch den Zollvertrag in wirtschaftlichen Belangen mit der Schweiz gleich gestellt zu werden, führte das diesbezügliche Vorgehen der Schweiz in Liechtenstein zu Frust und Enttäuschung über das gemeinschaftliche Vertragswerk.
Die Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit forderte ihren Tribut in den schweizerisch-liechtensteinischen Beziehungen. Gerade in wirtschaftlichen Belangen war das Entgegenkommen der Schweiz dem kleineren Vertragspartner gegenüber gering. Aus Liechtenstein wünschte man keine Wirtschaftskonkurrenz. Und wenn, dann nur in Absprache. So war die liechtensteinische Regierung dazu angehalten, Anfragen zur Gründung von Industriebetrieben in Liechtenstein zuerst mit der Schweiz abzusprechen. Auf schweizerischen Wunsch hin wurden mehrere grösser geplante Industrieprojekte in Liechtenstein nicht realisiert. Als die Gegenleistung, nämlich der uneingeschränkte Zugang der liechtensteinischen Arbeitskräfte zum Schweizer Arbeitsmarkt, dann aber nicht erfolgte, schwenkte die Liechtensteiner Regierung ab Mitte der 1930er-Jahre auf eine aktivere Politik der Industrieansiedlung um.
Literatur
Büchel, «Sparkassaskandal», in: eHFLF.
Geiger, Krisenzeit, Bd. 1 und Bd. 2., 1997.
Sochin-D’Elia, Ein Kleinstaat auf dem Weg aus der wirtschaftlichen Misere, 2019.