Schutz Liechtensteins durch die Schweiz im Zweiten Weltkrieg?
Beim Abschluss des Zollvertrags gehörte der Erste Weltkrieg erst wenige Jahre der Vergangenheit an. Gerade beim Schweizer Militär stand deshalb schon in den Anfangsjahren des Zollbündnisses die Frage im Raum, welche Rechte die Schweiz bezüglich militärischer Grenzsicherung in Kriegszeiten gegenüber Liechtenstein habe. Gerade in strategischer Hinsicht erschien es den damaligen Militärbefehlshabern wichtig, Liechtenstein im militärischen Ernstfall unverzüglich besetzen zu können. Soweit die Wünsche des Schweizer Militärs.
Im Eidgenössischen Politischen Departement sah man die Wünsche des Militärs differenzierter. Bundesrat Giuseppe Motta war der Ansicht, dass ein Schweizer Besetzungsrecht einen weitgehenden Eingriff in die liechtensteinische Souveränität darstelle. Ein solches Besetzungsrecht würde bedingen, dass Liechtenstein die militärische Verteidigung offiziell der Schweiz übertrüge. Dies aber stehe mit dem Selbstverständnis eines eigenständigen Staates in Widerspruch.
Sowohl die Schweiz wie auch Liechtenstein hätten die langfristige Einbindung Liechtensteins in die schweizerische Neutralität schon Mitte der 1920er-Jahre gerne gesehen. Die Schweiz verfügte seit 1815 über den Status der international anerkannten immerwährenden Neutralität. Liechtenstein hat diesen Status bis heute nicht. Der Einbezug Liechtensteins in die schweizerische Neutralität wäre zur damaligen Zeit nur über den Völkerbund, dem Liechtenstein nicht angehörte, denkbar gewesen.
In der Folge der «Machtergreifung» der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in Deutschland im Jahr 1933 stellte sich die Frage der militärischen Grenzüberwachung Liechtensteins durch die Schweiz erneut. Liechtenstein bat die Schweiz um eine verstärkte Kontrolle der Grenze zu Österreich. Die Schweiz sah von einem militärischen Einsatz ab, stockte die Grenzwacht jedoch auf.
In den Jahren 1934 und 1935 stand die Neutralität Liechtensteins erneut zur Diskussion. Man war sich einig, dass eine militärische Intervention der Schweiz in Liechtenstein nur möglich sei, wenn sich Liechtenstein beim Völkerbund darum bemühe, eine Neutralitätsstellung wie die Schweiz zu erlangen. Dann könnte Liechtenstein dem Schutze der Schweiz unterstellt werden. Dies jedoch war politisch brisant und kompliziert. Die Schweiz gelangte 1934 zu folgendem Grundverständnis: Ein formeller Einbezug Liechtensteins in die schweizerische Neutralität war politisch nach wie vor nicht opportun. Dennoch betrachtete die Schweiz die liechtensteinische Neutralität als Folge des engen wirtschaftlichen Vertragsverhältnisses als gegeben. Gleichzeitig behielt sich die Schweiz vor, Liechtenstein im Ernstfall auch militärisch mitzuverteidigen.
Das Interesse am jeweilig anderen Partner war gegeben: Liechtenstein erhoffte sich auf der einen Seite eine Schutzwirkung der Schweiz gegen das erstarkende nationalsozialistische Reich. Auf der anderen Seite erkannte die Schweiz Liechtenstein als geeignete militärische Pufferzone, es lag in ihrem ureigenen Interesse, die Grenzen Liechtensteins nach Österreich gesichert zu wissen. Das Schweizer Engagement basierte grundlegend auf dem Wunsch, dass Liechtenstein seine Selbständigkeit wahren und nicht Teil des Dritten Reiches würde. Die Weiterführung der etablierten Beziehungen lag im Interesse beider Vertragspartner.
Während des Zweiten Weltkrieges – und noch einige wenige Jahre darüber hinaus – bedurfte es hinsichtlich der schweizerisch-liechtensteinischen Grenze einer vorübergehenden Änderung des Zollvertrages. Die Schweiz führte an allen ihren Aussengrenzen – so auch nach Liechtenstein – wieder Passkontrollen durch. Um über eine der Rheinbrücken in die Schweiz zu gelangen, benötigten Liechtensteiner während dieser Zeit einen speziellen Ausweis. Ausländer brauchten für die nahe Grenzzone eine besondere Bewilligung, für die weitere Schweiz ein Visum. Von Balzers aus über die Festung St. Luzisteig Richtung Graubünden war der Grenzverkehr geschlossen.
Literatur
Cerutti, Giuseppe Motta, in: Altermatt, Schweizer Bundesräte, S. 306–311.
Bolliger, Die Zollgrenze zur Schweiz, 1970.
Geiger, Krisenzeit, Bd. 2, 1997.
Geiger, Kriegszeit, 2010.
Leipold-Schneider, «Grenzwache», in: eHLFL.
Leipold-Schneider, «Grenzübergänge», in: eHLFL.
Marxer, «Neutralität», in: eHLFL.
Quaderer-Vogt, Bewegte Zeiten, Bd. 3, 2014.