Grenzüberschreitendes Wirtschaftswachstum
Der wirtschaftliche Aufschwung in Liechtenstein in der Nachkriegszeit ging einher mit einer zunehmenden regionalen und grenzüberschreitenden Verflechtung. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren liechtensteinische Arbeitskräfte wegen der hiesigen schlechten Arbeitsmarktlage auf Stellen im Ausland angewiesen. Rund 15 Prozent der erwerbstätigen liechtensteinischen Wohnbevölkerung pendelten 1941 in die Schweiz oder nach Österreich. Hinzu kamen zahlreiche Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner, die der Arbeit wegen ihren Wohnsitz dauerhaft ins Ausland verlegt hatten. Dieses Verhältnis kehrte sich mit dem exorbitanten wirtschaftlichen Wachstum, das Liechtenstein ab den 1950er-Jahren widerfuhr.
Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte Liechtenstein beim Aufbau der Textilindustrie vom Wissen Schweizer Industrieller profitiert. Auch der ab den 1930er- und 1940er-Jahren erfolgende Ausbau des liechtensteinischen Industriesektors erfolgte mit ausländischen Fach- und Führungskräften aus der Schweiz und aus Deutschland. In Liechtenstein selbst waren diese nicht in genügendem Ausmass vorhanden. Die für den laufenden Betrieb erforderlichen weniger qualifizierten Arbeitskräfte wurden ab den 1950er-Jahren insbesondere aus Österreich und später aus süd- und südosteuropäischen Ländern geholt.

Zwischen Liechtenstein und der Schweiz gab es ein Freizügigkeitsabkommen, das den Schweizerinnen und Schweizern lange Zeit eine Sonderstellung einräumte. Diese konnten ihren Wohnsitz ohne Einschränkungen nach Liechtenstein verlegen. Die ab den 1950er-Jahren stark wachsende Anzahl an Grenzgängerinnen und Grenzgängern stammte hauptsächlich aus Österreich. Erst 1981 begrenzte Liechtenstein die Zuwanderung aus der Schweiz angesichts des im Lande stetig steigenden Ausländeranteils, den man schon seit Jahren versuchte zu stabilisieren. Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner geniessen demgegenüber in der Schweiz nach wie vor mehr oder weniger Freizügigkeit.
Der Wirtschaftsstandort Liechtenstein ist zu einem Wachstumsmotor des gesamten Rheintals geworden. Rund 50 Prozent aller Arbeitsplätze in Liechtenstein sind mit Grenzgängerinnen und Grenzgängern besetzt. Tagtäglich fahren Tausende von in der Schweiz, Österreich und Deutschland wohnenden Personen zu ihrer Arbeit nach Liechtenstein.

Liechtenstein und die Schweiz sind nicht allein über den Industriesektor intensiv miteinander verbunden, sondern auch im Dienstleistungssektor, vor allem im Finanzwesen. Der Finanzplatz Vaduz hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmende Bedeutung gewonnen. Gerade das Treuhandwesen hat von der Liechtenstein zugeschriebenen politischen Stabilität, aber auch vom starken Schweizer Franken profitiert.
Den Schweizer Franken hatte Liechtenstein 1924 einseitig eingeführt. Die Schweiz hatte diesen Schritt geduldet, ein eigentlicher Vertrag dazu wurde nicht geschlossen. Einen formellen Währungsvertrag zwischen den beiden Ländern gibt es erst seit 1981. Die zunehmende Verflechtung des liechtensteinischen und schweizerischen Finanzplatzes hatte diesen Schritt notwendig gemacht. Mit der Unterzeichnung des Währungsvertrags wurde Liechtenstein knapp sechzig Jahre nach Inkrafttreten des Zollvertrags auch formell in das Währungsgebiet der Schweiz aufgenommen. Durch den Vertrag gelten die schweizerischen Vorschriften über Geld-, Kredit- und Währungspolitik automatisch auch für Liechtenstein. Gerade der sogenannte Chiasso-Skandal von 1977, bei dem liechtensteinische Holdinggesellschaften zur Tarnung illegaler Finanzoperationen verwendet wurden, hatte in eklatanter Weise die enge Verbindung des schweizerischen und liechtensteinischen Finanzplatzes aufgezeigt.
Literatur
Büchel, «Aussenwirtschaft», in: eHLFL.
Merki, Wirtschaftswunder Liechtenstein, 2007.
Merki, «Finanzdienstleistungen», in: eHLFL.
Zäch, «Währungsvertrag», in: eHLFL.
Marxer, «Grenzgänger», in: eHLFL.