EWR und Zollvertrag
Der Zollvertrag mit der Schweiz hatte Liechtenstein die aussenwirtschaftliche Teilnahme am europäischen Integrationsprozess ermöglicht. Nun mehrten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren die Stimmen in Liechtenstein, in Bezug auf den europäischen Integrationsprozess von der Schweiz aussenpolitisch unabhängiger zu werden. Eine Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wurde in den 1980er-Jahren zum integrationspolitischen Ziel Liechtensteins.
Eine vermehrte Integration in Europa war jedoch ohne Abstimmung mit der Schweiz nicht möglich. Eine Abänderung des Zollvertrags war notwendig, damit Liechtenstein selbständiger Vertragspartner von Übereinkommen oder Mitglied internationaler Organisationen mit wirtschaftlichem Charakter werden konnte. Die Schweiz zeigte sich offen gegenüber dem Ansinnen Liechtensteins. Mit der Änderung des Zollvertrags vom 26. November 1990 wurden alsdann für die europapolitische Integration Liechtensteins die Weichen gestellt.
Das Schweizer wie auch das Liechtensteiner Stimmvolk stimmten beide innerhalb Wochenfrist im Dezember 1992 über einen möglichen EWR-Beitritt ab. In Liechtenstein hatten politische Unstimmigkeiten über das Abstimmungsdatum davor zu einer Staatskrise geführt. Der Landesfürst – ein Befürworter des EWR – hatte sich im Vorfeld dafür eingesetzt, dass das liechtensteinische Stimmvolk vor dem schweizerischen über den EWR-Beitritt befinde. Schlussendlich fand die liechtensteinische Volksabstimmung eine Woche nach der schweizerischen statt.
Die Schweiz lehnte das EWR-Beitrittsabkommen am 6. Dezember 1992 ab. Damit wurde Liechtensteins Teilnahme am EWR aufgrund des bestehenden Zollvertrags grundsätzlich infrage gestellt. Bundesrat Delamuraz versprach Liechtenstein jedoch das Entgegenkommen der Schweiz im Falle eines Abstimmungs-Ja in Liechtenstein. In Liechtenstein verbreitete Ängste, dass der Beitritt zum EWR zwangsläufig eine Kündigung des Schweizer Zollvertrags mit sich bringe, entkräftete die liechtensteinische Regierung. Mit einem Mehr von 55,8 Prozent nahmen die Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner am 12./13. Dezember 1992 die Vorlage zu Liechtensteins EWR-Beitritt an.
Bis zum effektiven Beitritt Liechtensteins zum EWR verging allerdings noch einige Zeit. Die Schweiz hielt ihr vorab gegebenes Versprechen und bemühte sich zusammen mit Liechtenstein um eine einvernehmliche Lösung, die Liechtenstein die gleichzeitige Teilnahme an zwei Wirtschaftsräumen ermöglichte. Die Lösung wurde mit der sogenannten «Parallelen Verkehrsfähigkeit» von Waren gefunden. Eine Ergänzung des Zollvertrags räumte Liechtenstein auch fortan das Recht ein, ohne die Schweiz an Übereinkommen und Organisationen teilzunehmen, sofern dafür eine besondere Vereinbarung zwischen den beiden Ländern geschaffen wurde.
Am 9. April 1995 stimmte das Liechtensteiner Stimmvolk über diese Änderung im Zollvertrag sowie über das EWR-Vertragswerk ab. Die hohe Stimmbeteiligung und das deutliche Mehr zum EWR wiederholten sich. Gleichzeitig war die Abstimmung auch ein Ja zur Schweiz und der Fortsetzung der engen Partnerschaft mit der Eidgenossenschaft. Am 1. Mai 1995 trat Liechtenstein dem EWR bei.
Liechtensteins Bilanz ist durchwegs positiv. Der EWR-Beitritt hat die enge und gute Partnerschaft mit der Schweiz nicht beeinträchtigt. Gleichzeitig hat Liechtenstein von den Rahmenbedingungen der EWR-Mitgliedschaft profitiert. Anlässlich einer Umfrage 25 Jahre nach dem Beitritt Liechtensteins zum EWR waren die Meinungen gemacht: Der EWR wird von den Trägern in Politik und Wirtschaft, aber auch von der Bevölkerung grundsätzlich positiv gesehen. Gleichzeitig ist aber auch die Mehrheit der Liechtensteinerinnen und Liechtensteiner der Ansicht, dass Liechtenstein seine Europapolitik eng mit der Schweiz abstimmen solle.
Literatur
Bradke/Hauser, 75 Jahre Zollvertrag Schweiz-Liechtenstein, 1998.
Frommelt, 25 Jahre EWR-Mitgliedschaft Liechtensteins, 2020.
Gstöhl, «Europäischer Wirtschaftsraum (EWR)», in: eHLFL.
Sochin-D’Elia, Wirtschaftswohl gegen eigenstaatliche Souveränität, 2019.