Beziehungen auf dem Prüfstand
Anfang der 1970er-Jahre standen die schweizerisch-liechtensteinischen Beziehungen auf dem Prüfstand. Gerade im Hinblick auf die europäische Integrationspolitik, aber auch in verschiedenen Sachthemen waren zwischen den beiden Ländern Schwierigkeiten entstanden, die es zu diskutieren galt. Ernsthaft infrage gestellt wurde der Zollvertrag aber weder von Liechtenstein noch der Schweiz. Im Gegenteil, das offizielle Bern wie auch Vaduz bekräftigten die gegenseitigen Beziehungen stets als freundnachbarschaftlich.
Die sogenannte Rucksackrede von Erbprinz Hans-Adam im Jahr 1970 war nicht nur in Liechtenstein, sondern auch in der Schweiz wahrgenommen worden. Erbprinz Hans-Adam hatte in seiner Rede das langjährige Bündnis mit der Schweiz als ein für Liechtenstein äusserst wichtiges, ja lebensnotwendiges, Vertragswerk beschrieben, von dem Liechtenstein wesentlich profitiert habe. Gleichzeitig hatte er aber angemahnt, dass Liechtenstein selbstständiger werden müsse, gerade was die Aussenwirtschaftspolitik angehe. In der Schweiz erkannte man die Rede zurecht als Emanzipationsbestrebung Liechtensteins, gerade was die damals aktuellen Diskussionen zur europäischen Integrationsbewegung betraf.

Gleichzeitig beschäftigte der geplante Bau einer Öl-Destillerie und -Raffinerie in Sennwald sowie eines Atomkraftwerks in Rüthi das gesamte Rheintal. In Vorarlberg, dem schweizerischen Rheintal und in Liechtenstein organisierte sich offener Widerstand gegen die Bauprojekte. Liechtenstein befürchtete immense negative Auswirkungen auf die eigene Naturlandschaft. So waren im in Liechtenstein gegründeten «Aktionskomitee sauberes Rheintal» nicht nur Privatpersonen vertreten, sondern auch alle Unterländer Gemeindevorsteher sowie einzelne Landtagsabgeordnete. Das hatte politische Sprengkraft. Auf der einen Seite stand der Kanton St. Gallen mit seinen Bauvorhaben, auf der anderen Seite der Widerstand aus dem eigenen Kanton, aber auch aus Vorarlberg und Liechtenstein, bei dem sich lokale Politgrössen aktiv beteiligten.
Während diverse Gutachten des Kantons St. Gallen jeweils zum Schluss kamen, dass die geplanten Anlagen keinerlei schädliche Auswirkungen auf die Region hätten, war man in Liechtenstein diesbezüglich anderer Ansicht. Im Juli 1972 hielt der liechtensteinische Landtag eine Sondersitzung zur geplanten Destillationsanlage Sennwald und zum Atomkraftwerk Rüthi ab. Die liechtensteinische Regierung erklärte anlässlich der Landtagssitzung, dass sie im intensiven Austausch mit der Kantonsregierung St. Gallen stehe. Die genannten Bauvorhaben wurden schlussendlich nie realisiert. In Liechtenstein hatten die Diskussionen rund um die im St. Galler Rheintal geplanten Anlagen zu einer Umweltbewegung und zur Gründung der Liechtensteinischen Gesellschaft für Umweltschutz (LGU) geführt.

Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen hatte Edgar Oehler, CVP-Politiker aus dem sankt-gallischen Balgach, im Dezember 1972 im schweizerischen Nationalrat ein Postulat zur Überprüfung der Beziehungen zum Fürstentum Liechtenstein eingereicht. In seinem Postulat fragte er, ob es allenfalls notwendig sei, den Zollvertrag sowie andere existierende Vereinbarungen anzupassen. Das Postulat spiegelte die Stimmungslage einzelner Rheintaler wider, die sich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden Staaten sorgten und Liechtenstein als Profiteur zulasten der angrenzenden Schweizer Kantone betrachteten. Der Bundesrat liess sich mit der Postulatsbeantwortung ein ganzes Jahr Zeit. Er wurde dem Nationalrat im Dezember 1973 und damit exakt 50 Jahre nach der Gutheissung des Zollvertrags durch das Schweizer Parlament vorgestellt. Der Bericht ging detailliert auf die unterschiedlichen zwischen der Schweiz und Liechtenstein existierenden vertraglichen Beziehungen ein. Aus der Beschreibung wird deutlich, wie vielfältig sich die Beziehungen der beiden Länder in den vorangegangenen 50 Jahren entwickelt hatten. Der Bundesrat kam zu einem durchwegs positiven Fazit: Die Beziehungen der Schweiz zu Liechtenstein hätten sich «zur gegenseitigen Zufriedenheit entwickelt». Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehe deshalb «kein Anlass zu einer grundsätzlichen Änderung» des Zollvertrags. Selbstverständlich gebe es aufgrund des engen «nachbarlichen Verhältnisses» immer wieder zu diskutierende Fragen und bei Bedarf auch Anpassungen in den existierenden Vereinbarungen. Problematiken wie diejenige in Sennwald und Rüthi seien jedoch nicht als zwischenstaatliches Beziehungsproblem zu betrachten, sondern seien eine «Projizierung von bekannten schweizerischen Problemen auf das Verhältnis zu Liechtenstein».
Literatur
Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften, Postulat Oehler, 1973.
Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften, Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beziehungen zum Fürstentum Liechtenstein, 1974.
Imhof, «Liechtensteinische Gesellschaft für Umweltschutz (LGU)», in: eHLFL.
Meier, Die umstrittene Oelumschlagsanlage Sennwald, in: NZZ, 31.07.1972.
N.N., Freundnachbarlicher Seitenhieb, in: Liechtensteiner Vaterland, 24.03.1973.
Sochin-D’Elia, Die liechtensteinisch-schweizerischen Beziehungen im Spiegel der Zollvertragsjubiläen, 2017.
wbw [Walter Bruno Wohlwend], Überprüfung der Beziehungen Schweiz-Liechtenstein!, in: Liechtensteiner Volksblatt, 22.03.1973.